von Dr. Stefan Rohr, München (E-Mail: dr.stefan.rohr [at] t-online.de)

Namibia 08.06.2019 – 22.06.2019

Vor einigen Jahren fragte mich ein guter Freund: „Worum ging es Dir denn, als Du Deinen Beruf gewählt hast?“ Fragend blickte ich ihn an. „Wovon hast Du geträumt, als Du Dich entschlossen hast, Zahnarzt zu werden?“ fasste er nach. Unbeholfenen verloren sich meine Worte in Allgemeinplätzen: „Was mit Menschen zu tun haben… etwas Manuelles… etwas Medizinisches“. Was war mein Traum? Unaufhörlich kreist die Frage durch meine Erinnerungen, scrollt die Zeit vor und zurück auf der Suche nach einer Antwort…

Im Team dieser Reise waren, wie bereits vor einem Jahr:

  • Christine Welte, Zahntechnikerin,
  • Maria Bizenberger, Zahntechnikerin,
  • Michael Bizenberger, Zahntechniker und
  • Dr. Stefan Rohr, Zahnarzt.

Es ist Winter in Namibia. Der Himmel ist wolkenlos und tiefblau. Und der Wind bläst eisig. Die Temperaturen fallen nachts bis nahe an den Gefrierpunkt. Nach den Erfahrungen aus dem letzten Jahr sind wir gewappnet und mit Pullovern, Winterjacken und Wärmflaschen ausgerüstet.

Nachdem alle Koffer in Windhoek angekommen sind, drei davon treffen mit einem Tag Verspätung aus Frankfurt ein, brechen wir auf, 500 km nach Süden, nach Keetmanshoop, der ersten Station auf unserer Reise. Das Abenteuer beginnt bereits 50 km südlich von Windhoek, als sich das linke Hinterrad von unserem gemieteten Auto löst. Die Radschrauben sind gebrochen. Nach einem Hilferuf an Value Car macht sich ein Mechaniker mit einem neuen Rad und neuen Radschrauben auf den Weg. Nach zwei Stunden ist das Auto repariert. Die Reise kann weitergehen. Gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang erreichen wir den Köcherbaumwald nahe Keetmanshoop.

Es ist Montag Morgen. Nach der Begrüßung durch den Direktor der Karas Provinz und einer Besprechung im Ministry of Education, bei der wir gemeinsam überlegen, wie alle Schulkinder der Provinz regelmäßig untersucht werden können, besuchen wir noch die Zahnstation des Keetmanshoop-Hospital. Maria, die einzige staatliche Zahntechnikerin der Provinz, freut sich über das Wiedersehen mit uns.  Sie strahlt beim Anblick der  vielen mitgebrachten Materialien, die sie für ihre Arbeit dringend benötigt.

Dr. Chigova stellt uns eine seiner Patientinnen vor. Kelly ist 26 Jahre alt, leidet unter einer angeborenen Gesichtsdymophie. Ihr Kopf ist sehr schmal, der Unterkiefer viel zu klein und weit zurückgesetzt. Die meisten ihrer Zähne waren nicht angelegt oder mussten bereits entfernt werden. Kieferorthopädische Korrekturen sind in Namibia nicht möglich. Dr. Chigova wusste keinen Rat mehr. Tränen rollen über Kellys Wangen.

Zusammen überlegen wir, wie wir für Kelly eine Lösung finden können. Michael würde in den nächsten Tagen Prothesen für den  Oberkiefer und Unterkiefer anfertigen, damit Kelly wieder kauen und lächeln kann. Die Tränen der Hoffnungslosigkeit verschwinden aus ihren Augen. Schon jetzt kehrt ein Lächeln der Zuversicht zurück. „Bereits jetzt hat sich der Weg nach Namibia gelohnt“ stellt Michael fest.

War das der Traum?

Unser Einsatzplan führt uns noch 250 km weiter nach Süden, nach Karasburg. Patienten, die Teil- und Vollprothesen brauchen, erwarten uns bereits im Karasburg-Hospital. Noch am selben Nachmittag beginnen wir, Abdrücke zu nehmen. Am Dienstag und Mittwoch sollen Einproben folgen und am Donnerstagnachmittag sind alle elf Totalprothesen und 14 Teilprothesen fertig.  Der Augenblick, wenn sich Patienten das erste Mal mit ihren neuen Zähnen im Spiegel sehen, ist berührend und mit Worten kaum zu beschreiben: Ihre Freude über ihr neues Lachen, ihre leuchtenden Augen, ihre Dankbarkeit und das immer wiederkehrende “may I hug you“ rührten uns zu tiefst.

War das der Traum?

Am Samstag verlassen wir Karasburg in Richtung Aussenkehr, unserem Ziel für die zweite Arbeitswoche. Wir wählen die wunderschöne Route entlang der C12 durch die Wüste, den Gondwana Canyon Park, mit einem Stop am Canyon Roadhouse und am Fish River Canyon. Nach einer stundenlangen Fahrt durch beinahe vegetationslose Landschaft nähern wir uns dem Orange River. Das satte Grün der Trauben- und Dattelpalmenplantagen, vor dem in der Abendsonne leuchtenden Rot der Berge und dem Blau des Flusses erscheint wie aus einer anderen Welt.

Es ist Sonntag Morgen. Über dem Orange River geht die Sonne auf. Die roten Berge auf der südafrikanischen Seite des Flusses beginnen zu leuchten. Das Spiel von Licht und Schatten beginnt und ändert sich mit jedem Augenblick. Schilf spiegelt sich im Wasser. Ein Kormoran trocknet sein Gefieder im frühen Sonnenlicht. Es ist kalt, sehr kalt.

Wie mag es den Menschen in ihren Hütten ergehen? Hütten gemacht aus dem Schilf, das am Flussufer wächst. Kein fließendes Wasser, kein Strom. Kinder, spärlich bekleidet, ohne Schuhe. Wie kann man eine solche Nacht überstehen?

Um 9:00 beginnt der Gottesdienst in Aussenkehr. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Kirche aus Wellblech. Ein Holztisch dient als Altar, keine Kirchenglocken, keine Orgel, nur eine Trommel, mehrstimmiger Gospel-Gesang und tiefe Gläubigkeit. Der Rhythmus der Trommel erfasst die Menschen, lässt sie in den Stuhlreihen tanzen. Sie heben ihr Arme, schwingen sie hin und her. Dazwischen die hohen Triller der Frauen.  Die Kinder sind festlich gekleidet, Frauen tragen wallende Röcke, viele Männer Sacco. Wie passt das zusammen mit den einfachen Strohhütten der Stadt?

Der Pfarrer bittet mich, uns der Gemeinde vorzustellen. Die Nachricht, dass wir eine Woche in Aussenkehr arbeiten werden und alle Behandlungen, auch Prothesen, für jeden kostenlos sind, lässt die Menschen applaudieren.

Wir spazieren durch Aussenkehr. An drei Stellen im Ort kann Wasser gezapft werden. Ein paar Jungs füllen Wasser in Eimer und alte Plastikflaschen und tragen es zu der Hütte ihrer Familie.  Nach ein paar Metern setzt ein kleiner Junge seine beiden Flaschen ab. Sie sind voll und schwer. Er trägt ein ausgewaschenes T-Shirt mit dem Foto seines Vaters. Über dem Foto steht: „Rest in Peace“ und darunter das Geburts- und  das Sterbedatum.

Tine schenkt einem  kleinen Mädchen eine warme Daunenjacke. Am Tag darauf steckt ihr das Mädchen einen zusammengefalteten Zettel zu.

Sonntag Nachmittag kommen Coerie und Aletta mit unserem Equipment in Aussenkehr an. Wir treffen sie vor einem verlassenen, kleinen Postgebäude, unserem Arbeitsplatz für die nächsten fünf Tage. Mit inzwischen geübten Griffen bauen wir einen Behandlungsplatz für die Patienten und ein kleines Zahnlabor mit Campingtischen und Campingstühlen auf.  Es gibt nur eine Steckdose für alle Geräte und kein Deckenlicht.  Mit Sonnenuntergang ist alles vorbereitet. Wir freuen uns auf morgen, wenn die ersten Patienten kommen.

Montag Morgen 8:00 Uhr: Ein Traube von Patienten wartet bereits vor dem Postgebäude. Einmal im Jahr kommen Zahntechniker und mit ihnen die Möglichkeit „neue Zähne“ zu bekommen. Zwei einheimische medizinische Helfer, Philipp und Brisco, unterstützten uns, um  die vielen Menschen zu organisieren, zu übersetzen und zu assistieren. Wir arbeiten jeden Tag bis weit nach Sonnenuntergang. Mit Stirnlampen und kleinen Handylichtern orientieren wir uns in der Dunkelheit.

Für Mittwoch ist eine Stromunterbrechung von 6:00 bis 18:00 Uhr angekündigt. Da das „Trinkwasser“ mit Pumpen aus dem Orange River gefördert wird, bedeutet das, ohne Strom auch kein Wasser. Strom ist die Achillesferse unserer Zahnstation. Ein Tag ohne Strom bedeutet, wir können die begonnenen Prothesen bis zum Ende der Woche nicht fertigstellen. Mit ein paar Telefonaten organisiert Brisco einen Generator und Benzin, abgefüllt in leeren Colaflaschen. Schnell zeigt sich, dass der Generator nicht genügend Leistung aufbaut, um alle Geräte gleichzeitig mit Strom zu versorgen. Es braucht einen Plan, in welcher Reihenfolge sterilisiert, gebohrt, abgesaugt etc. werden kann. Coerie organisiert Eimer, um einen Wasservorrat anzulegen. Improvisation, Phantasie und die Unterstützung der einheimischen guten Geister ermöglichten einen weitgehend problemlosen Arbeitstag und  retteten damit unseren Zeitplan.

Aussenkehr ist wie jedes Jahr und zu jeder Jahreszeit eine Herausforderung. Die Temperaturen im Sommer extrem heiß, im Winter kalt, ohne Klimaanlage oder Heizung. In der Erntezeit leben über 30.000 Menschen in den Schilfhütten. Dreimal pro Jahr kommt ein Zahnärzte-Team für jeweils eine Woche in die Stadt. Die Anzahl der wartenden Patienten überrascht uns dennoch immer wieder.  Strom gibt es meistens. Wasser am Waschbecken selten. Meist müssen auch wir es mit Eimern an den Zapfstellen holen. Es ist der Ort in Namibia, der die größten Herausforderungen an die Teams stellt und zugleich der Ort, an dem die Qualität unserer mobilen Zahnstation und die Fähigkeit unserer Teams  zur Improvisation am meisten zum Tragen kommen.

Es ist Freitag Mittag. Die Woche verging wie im Flug. Alle Patienten, die eine Behandlung benötigten, sind versorgt und alle Prothesen eingesetzt.

Eine letzte Fahrt durch die Staubstrassen. Menschen winken uns zu. Ein Mann rückt ins Bild. Er hat die Winterjacke angezogen, die Maria ihm geschenkt hat. Sie ist viel zu klein für ihn. Dennoch strahlt er Maria dankbar an.

Am Abend erreichen wir Keetmanshoop. Dr. Chigova und Kelly erwarten uns im Keetmanshoop-Hospital. Wir setzten Kelly ihre neuen Zähne ein. Sie strahlt in den Spiegel, Tränen der Freude, bei ihr und bei uns.

Das war und ist mein Traum! – Anderen Menschen helfen, sie vom Schmerz befreien, ihnen Hoffnung geben, ein neues Lachen schenken, ihnen ein Stück weit ihre Würde zurückgeben, dabei meine Hautfarbe und Herkunft vergessen, mich in anderen wiederfinden, das kommt dem Sinn meines Lebens sehr nahe.

Mein Dank gilt dem Team, Tine, Maria, Aletta, Coerie, Eleonora, Michael, Dr. Chigova, Phillipp und Brisco, ihrem Mut und ihrer Beharrlichkeit, ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe, die sie Namibia und seinen Menschen schenken.

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